Der folgende Aufsatz erschien 2007 in dem Magazin "Text-Art", einer Zeitschrift Magazin für Autoren, dessen Lektüre ich angehenden Schreibenden nur dringend anempfehlen kann. Die darin beschriebene Methode habe ich über die Jahre entwickelt und schließlich im Januar 2006 in Wolfenbüttel erstmal in einem Seminar vorgestellt.

Andreas Eschbachs 10-Punkte-Text-ÜV*

Die rein sprachlich-stilistische Überarbeitung ist, wohlgemerkt, die allerletzte Etappe des Überarbeitungsprozesses. Zuvor muss alles Inhaltliche stimmen. Wer danach aber ratlos vor seinem Text sitzt mit nicht mehr als dem Gefühl, daß »irgendwas« noch nicht stimmt, dem mag die nachstehend beschriebene Methode helfen, herauszufinden, was.

Die Abkürzung* ÜV steht hier für »Überarbeitungs-Vorbereitung«: Die Grundidee ist, einen Text vor der eigentlichen Überarbeitung so mit Markierungen zu versehen, daß einem »beliebte« sprachliche Schwachstellen besonders deutlich auffallen.

Es ist wichtig, dieses Prinzip zu verstehen: Die Methode sieht zum Beispiel vor, sämtliche Adjektive in einem Text zu
markieren – doch das heißt nicht, daß diese Adjektive sämtlichst zu streichen sind! Denn: Nicht das Adjektiv an sich ist »schlecht«, sondern daß man sich manchmal mit seiner Hilfe um die Mühe herummogelt, den wirklich passenden Ausdruck zu finden.

Die ÜV-Markierungen dienen also dazu, das Augenmerk auf
mögliche(!) Schwachstellen des Textes zu lenken. Zu entscheiden, ob das dann jeweils wirkliche Schwachstellen sind oder stilistische Finesse, bleibt in Ihrer Verantwortung als Autor: Eine Formel für die Qualität eines Textes gibt es nicht.

(* Man könnte "
Text-Überarbeitungs-Vorbereitung" natürlich auch anders - und eingängiger - abkürzen, aber der Technische Überwachungsverein hat mir angedroht, mich durch seine Anwälte für Markenrecht juristisch verfolgen zu lassen, sollte ich diese Abkürzung hier verwenden, also lasse ich es.)


Der erste Schritt: Den Text markieren

Grundregel 1: Sie brauchen auf jeden Fall einen Ausdruck Ihres Textes – am Bildschirm zu überarbeiten funktioniert einfach nicht. Achten Sie auf einen ausreichend breiten Rand; er muß unter Umständen eine Menge handschriftlicher Notizen fassen!

Grundregel 2: Nehmen Sie sich für die Arbeit des Markierens jeweils nur ein kurzes Stück Text auf einmal. Wie kurz ist kurz? Beginnen Sie mit 1 Seite und experimentieren Sie, wenn Sie die Methode »drauf« haben. (Wie gesagt: Für das Vornehmen der Markierungen. Natürlich betrachten Sie nachher, bei der eigentlichen Überarbeitung, die jeweilige Szene oder das Kapitel als Ganzes.)

Grundregel 3: Jede ÜV-Markierung ist ein eigener Durchgang! Also nicht alles auf einmal zu markieren versuchen – dabei würde man unweigerlich viel übersehen –, sondern jedes Mal wieder am Anfang beginnen und den Textabschnitt bis zum Ende durchgehen.

Grundregel 4: Wann immer Ihnen irgendetwas im Text auffällt, sei es negativ oder positiv – sofort einen entsprechenden Vermerk an den Rand setzen! (Und nein, Sie werden nicht »schon dran denken«. Sie werden das, was Ihnen eben aufgefallen ist, vergessen, und wenn Sie einst das gedruckte Buch aufschlagen, wird es genau an dieser Stelle sein, und dann wird Ihnen wieder einfallen, dass Sie das ändern wollten!)

Und noch ein Tipp: Benutzen Sie für die ÜV-Markierungen eine
andere Farbe als für Ihre Korrekturen. Möglichst eine sanftere, zurückhaltendere – Grün oder Hellblau zum Beispiel.


Die 10 ÜV-Markierungen und welche Überlegungen sie auslösen sollen

1. Den
ersten Absatz einer Szene mit einem schrägen Querstrich von links oben nach rechts unten streichen.



Was zu überlegen ist: Manchmal sind die ersten Absätze einer Szene eher ein »Warmschreiben« als ein wirklich durchdachter Einstieg. Prüfen Sie, ob der erste Absatz überhaupt nötig ist. Gewinnt die Szene durch einen späteren Einstieg? Versuchen Sie, das, was aus diesem ersten Absatz wichtig ist, anderswo unterzubringen.

Alternativ: Suchen Sie nach dem spätestmöglichen Einstieg in die Szene. Streichen Sie alles vorher. Hat das Vorhergehende eine Funktion in der Geschichte? Welche? Kann man diese Funktion in den übrigen Text einbringen?


2. Alle
Adjektive und Adverben dünn auf halber Höhe waagrecht durchstreichen.



Was zu überlegen ist: Gewinnt der Text, wenn statt des Adjektivs ein präziseres Substantiv, statt des Adverbs ein präziseres Verb verwendet wird? (Also statt Er ging langsam vielleicht: Er schlich. Oder: Er schlenderte. Und so weiter.)


3. Alle
Dialogauszeichnungen mit Wellenlinien kennzeichnen. (Also alle »sagte er«, »hüstelte Ingrid«, »erklärte Peter« usw.)



Was zu überlegen ist: Wenn man auch ohne Dialogauszeichnung mühelos versteht, wer spricht, gewinnt der Text oft, wenn man sie wegläßt. Wendungen wie »Genau«, sagte Peter und klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Das machen wir.« können verkürzt werden zu »Genau.« Peter klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Das machen wir.«

Doch tun Sie nicht zuviel des Guten: Ein langer Wortwechsel ohne jede Handlung oder Namensnennung verwirrt!


4.
Blähwörter und Abschwächer wie »einige, mehrere, ungefähr, wahrscheinlich, etwa, offenbar, genau, ziemlich, paar, wenig, viele« rechteckig einkasteln.



Was zu überlegen ist: Solche Wörter sind fast immer entbehrlich!

(Legen Sie sich eine eigene Liste Ihrer »Lieblingsfüllwörter« an!)


5.
Gleichzeitigkeitsanzeiger wie »als«, »während«, »gleichzeitig« auskreuzen.



Was zu überlegen ist: Fast immer kann man Ereignisse, die in Wirklichkeit gleichzeitig stattfinden, eins nach dem anderen schildern, ohne etwas zu verlieren. Achten Sie auf die richtige logische, kausale oder zeitliche Reihenfolge: Aus Sie schrie auf, als er sie ohrfeigte. kann Er ohrfeigte sie. Sie schrie auf. werden – andersherum dagegen wird etwas anderes erzählt!


6.
Passivkonstruktionen mit kleinem hochgestelltem P kennzeichnen.



Was zu überlegen ist: Prüfen Sie, ob Sie nicht besser die Aktivform verwenden. Die meisten Passivkonstruktionen unterlaufen einem beim Schreiben aus Versehen, und wenn man genau hinschaut, merkt man, daß der Satz im Aktiv besser wirkt.


7. Kennzeichnen Sie
lange Sätze mit hochgestelltem L.



Wie man lange Sätze rasch findet: Suchen Sie Punkte! Drei Zeilen ohne Punkt heißt: Der Satz ist lang. (Natürlich hängt das von der Formatierung des Seite ab und auch von dem Genre, in dem man schreibt.)

Was zu überlegen ist: Würde etwas verloren gehen, wenn man den Satz teilt oder, noch besser, kürzt?


8. Kennzeichnen Sie
Dialoge, die länger als drei Sätze sind, mit hochgestelltem LD (für »langer Dialog«)

Was zu überlegen ist: Kann man diese Dialoge kürzen? Aufteilen?


9.
Indirekte Wahrnehmung mit Zackenlinie kennzeichnen (»sah, wie«, »überlegte, ob«, »hoffte, daß«).



Was zu überlegen ist: Ist die indirekte Wahrnehmung jeweils wirklich erforderlich? Warum?


10. Suchen Sie Absätze, in denen Sie
mehrmals dasselbe auf verschiedene Weise geschrieben haben, und kennzeichnen Sie sie durch eine doppelte senkrechte Wellenlinie am Rand.



Was zu überlegen ist: Oft beschreibt man ein und dieselbe Beobachtung, Gefühlsregung oder Überlegung mehrmals, jeweils auf verschiedene Weise, weil man gewissermaßen schreibend nach dem richtigen Ausdruck tastet. Zwei ähnliche Sätze schwächen einander jedoch in ihrer Wirkung!

Bei obiger Stelle ist zu überlegen, ob sie eingedampft auf
Sie schlug ihm den Knüppel noch ein zweites Mal über den Kopf. nicht wirkungsvoller ist.


Der zweite Schritt: Die eigentliche Überarbeitung

Gehen Sie den markierten Text nun anhand obiger Anregungen durch. Streichen Sie, fügen Sie ein, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Streichen: Die meisten Texte gewinnen durch simples Kürzen. (Experimentieren Sie damit, die Wörter vorher und nachher zu zählen und streben Sie versuchsweise an, den Text jeweils um mindestens zehn Prozent »einzudampfen«.)

Kennzeichnen Sie über eventuelle Änderungen hinaus Stellen, die Ihnen gelungen erscheinen, mit einer
senkrechten Doppellinie am Rand: Genauso wichtig, wie Schwachstellen zu erkennen, ist es, »Starkstellen« zu erkennen und zu markieren, damit diese nicht in einem unaufmerksamen Moment durch übermäßiges Befolgen irgendwelcher Regeln »zu Tode korrigiert« werden. Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage sollte nicht »verbessert« werden zu: Die Frage lautet, ob wir sind oder nicht.


Der dritte Schritt: Laut lesen!

Einen Text laut vorzulesen ist der beste Test auf sprachliche Qualität, den es gibt. Nicht jeder Text, der gut laut zu lesen ist, ist gut – aber jeder Text, der
nicht gut laut zu lesen ist, ist schlecht!

Es empfiehlt sich, für das Vorlesen die bisherigen Korrekturen einzuarbeiten und einen neuen Ausdruck zu machen, um eine saubere Vorlage zu haben. Denn Stellen, über die Ihre Zunge beim lauten Lesen stolpert, bedürfen wiederum der Korrektur!

Man muß übrigens
nicht gut vorlesen können für diese Übung! Im Gegenteil, gerade beim eher ungeschickten, monotonen Vorlesen stößt man auf die Schwachstellen eines Textes – geübte Sprecher sind eher imstande, durch geschickte Betonung und dergleichen über solche Stellen hinwegzutäuschen: Das mag beim Herstellen einer Hörbuchfassung von Nutzen sein, nicht aber, wenn es noch darum geht, den Text sprachlich auszufeilen.

Ein Gegenüber zu haben ist von Vorteil; man liest anders und hört sich selber aufmerksamer zu dabei. Wo sich das nicht einrichten läßt (oder willige Zuhörer schon überstrapaziert wurden), lohnt sich der Versuch, sich mit einem Diktafon oder dergleichen aufzunehmen und sich danach sozusagen selber zuzuhören.


Der vierte Schritt: Vergleichen!

Legen Sie die ursprüngliche und die überarbeitete Fassung nebeneinander: Im direkten Vergleich erkennen wir Qualität am sichersten.

Können Sie sehen, daß die überarbeitete Fassung gewonnen hat? Meistens ist es unverkennbar. Man staunt oft, wie man die ursprüngliche Fassung jemals für fertig und rund hatte halten können.

Doch das muß nicht immer und überall so sein. Vergleichen Sie die beiden Fassungen und seien Sie offen für die Möglichkeit, daß ein »schiefer Satz«, ein eigentümliches Bild oder eine ungewöhnliche Metapher aus der ersten Fassung letzten Endes doch wiederhergestellt werden muß. Bei allen Schludrigkeiten, die einem in der Rohfassung unterlaufen, geraten einem doch bisweilen auch Stellen, denen Kraft innewohnt und die auf eine Weise gelungen sind, die sich durch Mühe und Arbeit nicht erzielen läßt, sondern nur durch die Mühelosigkeit eines gesegneten Augenblicks. Diese Stellen gilt es zu bewahren.


Sollten Sie ein Schreibseminar planen und es für eine gute Idee halten, obigen Text darin zu verwenden, dann schreiben Sie mir einfach und fragen Sie. Bis jetzt haben alle, die das tun wollten, meine Erlaubnis bekommen.

Und noch was: Wenn Sie die Text-ÜV-Methode für Ihr
eigenes Schreiben verwenden wollen, können Sie das natürlich ohne weiteres tun. Dafür brauchen Sie nicht um Erlaubnis zu fragen! (So weit sind wir dann doch noch nicht.) Aber falls Ihnen die Methode hilft und Sie mich das wissen lassen wollen, würde es mich natürlich freuen, von Ihnen zu hören.
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