Die Auferstehung


Ein ???-Roman
von
Andreas Eschbach


Atalaia do Norte ist die westlichste brasilianische Gemeinde im Amazonas. Sie liegt am Ufer des Rio Javari, der zugleich die Grenze zu Peru bildet. Nicht, dass die Einwohner hier sich viel um Grenzen kümmern würden. Die Gegend ist flach, der Blick reicht weit – man könnte fast glauben, bis an die Enden der Welt –, und was man sieht, ist vor allem Wald. Anderswo sind große Teile des Regenwalds abgeholzt worden, um Platz für Ackerflächen zu schaffen, doch hier steht er noch, so unberührt, wie ein Dschungel im 21. Jahrhundert nur sein kann.

An jenem Mittwochnachmittag Ende August lag schwüle Mittagshitze über dem Ort. Das Thermometer zeigte 34°Celsius, und nur ein paar magere Hunde schlichen auf den größtenteils nicht asphaltierten Straßen herum. Wer nicht unterwegs sein musste, blieb im Schatten.

In der Markthalle am Ende der Rua Costa e Silva war so gut wie nichts los. Auf grob gezimmerten Holztischen, die, genau wie das Gebäude, gelb und blau gestrichen waren, wurde Gemüse feilgeboten, dazu riesige Melonen und Bananen in allen Variationen, von gelben, fleckigen Bündeln bis hin zu ganzen Bananenstauden, an denen die Früchte noch grün waren. Hinter den Tischen saßen Frauen auf Plastikstühlen und unterhielten sich mit träger Gelassenheit. Sie trugen leichte Kleider oder T-Shirts und Röcke, und alle hatten sie Zehensandalen an den Füßen.

Unter einem Vordach nebenan standen ein paar knallbunte, neu aussehende Motorräder. Junge Männer lümmelten darauf herum, redeten und warteten, dass die Hitze nachließ.

Bis einem von ihnen das Kanu auffiel.

»
Olá«, sagte er zu seinen Freunden und wies auf den Fluss hinaus, wo ein Kanu, von Westen kommend, quer über den breiten, braunen, träge dahinfließenden Rio Javari auf die Stadt zuhielt.

Es war ein Kanu, wie es manche der Indigenen immer noch verwendeten. Was an sich nichts Ungewöhnliches war, denn in Atalaia do Norte lebten Menschen jedweder Herkunft friedlich zusammen, und jemandem in Stammestracht und mit Pfeil und Bogen in der Hand zu begegnen, war keine Seltenheit.

Doch zwischen den beiden Männern, die das Kanu mit kraftvollen Bewegungen ihrer Paddel vorantrieben, saß eine weiße Frau mit auffallend hellen blonden Haaren, die in der Sonne leuchteten wie Gold. Und das war ein ungewohnter Anblick.

Bis das Kanu das Ufer erreicht hatte und zwischen all den Fischerbooten, die hier ankerten, anlegte, standen die jungen Männer schon am Ufer, neugierig, was das zu bedeuten hatte. Auch die Händlerinnen hatten ihre Marktstände im Stich gelassen und beobachteten das Geschehen.

Was geschah, war, dass die Frau ausstieg und den beiden Männern im Boot zunickte, die nur Lendenschurze trugen. Die Männer erwiderten das Nicken stumm, stießen sich dann sofort wieder ab und fuhren davon, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Frau dagegen erklomm, barfuß und unbeholfen, das Ufer.

Derjenige, der das Kanu als Erster entdeckt hatte, trat rasch vor, reichte ihr die Hand und half ihr herauf.

Aus der Nähe betrachtet sah die Frau bedauernswert aus. Sie trug einen primitiven Lendenschurz und ein uraltes, zerrissenes T-Shirt, und sie war so schmutzig, als hätte sie wochenlang im Schlamm geschlafen. Zahllose Stiche und Kratzer zierten ihre blasse Haut. Die blonden Haare schienen mit einer Machete gestutzt worden zu sein.

»
Please«, sagte sie mit rauer, erschöpfter Stimme. »Take me to the Police Station.«

Die jungen Männer musterten einander. So viel Englisch verstand jeder von ihnen, der Touristen wegen, die es ab und zu in den Ort verschlug.

»
Polícia«, sagte der, der ihr geholfen hatte. »Yes. Come with me

Klar, dass er sie zu seinem schicken, knallroten Motorrad führte. Sie schien kein Problem damit zu haben, lächelte dankbar. Er ließ den Motor an, seine Freunde taten dasselbe, und so fuhren sie die blonde Frau im Konvoi durch die Stadt, bis in die Rua João Batista zur örtlichen Polizeistation.

Auch dort hatte man der Ruhe gepflegt, doch das unüberhörbare Nahen der Motorräder schreckte die Polizisten beizeiten auf. Wachsam und mit hochgezogenen Brauen verfolgten sie, wie all die jungen Männer hereindrängten, die halb nackte, verwahrloste Frau mit den blonden, übel zugerichteten Haaren in ihrer Mitte.

Ob einer von ihnen Englisch spräche, erkundigte sich die Frau, ehe jemand dazu kam, etwas zu sagen.

Als der
Delegado de Polícia das bestätigte, sagte sie: »Ich bin amerikanische Staatsbürgerin. Bitte verständigen Sie die US-Botschaft. Sagen sie ihnen, ich sei von den Toten auferstanden.«

***



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"Die Auferstehung"
Roman von Andreas Eschbach
Kosmos-Verlag, Stuttgart
ISBN 978-3-440-17974-1

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