Der Jesus-Deal

 

Nationales Sicherheits-Amt

Roman
von
Andreas Eschbach


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Eugen Lettke hatte die Toilette ganz für sich alleine, diesen viel zu großen, viel zu hohen, ungemütlich kalten, weiß gekachelten Raum, in dem es nach Desinfektionsmittel und Urin stank und in dem jedes Geräusch schrecklich laut widerhallte: Nicht nur die Wasserspülung, die klang, wie er sich die Niagarafälle vorstellte, nicht nur das Verriegeln der Klotür, das an zufallende Kerkergitter denken ließ, nein, auch jeder Schritt, den man tat, war überlaut zu hören, genau wie das Rascheln der Hose, die man herunterließ, selbst das bloße Aufknöpfen des Hosenschlitzes. Von den Geräuschen, die mit den eigentlichen »Geschäften« verbunden waren, ganz zu schweigen.

Es war schon gut, wenn man die Toilette für sich alleine hatte.

Im Moment quietschte nur der Wasserhahn, der noch aus einem anderen Jahrhundert stammte. Drei Waschbecken gab es, viel zu viele für die Anzahl der Männer, die noch im NSA arbeiteten. Der Wasserhahn am Becken ganz links tropfte unentwegt, und zwar schon, seit er hier arbeitete. Niemand fühlte sich dafür zuständig; er auch nicht.

Eugen Lettke hatte es nicht eilig. Er betrachtete sich im Spiegel, während er sorgsam einigen widerspenstigen Strähnen an seinem Kopf mit etwas kaltem Wasser Gehorsam beibrachte. Auch die Spitzen seines dünnen Oberlippenbärtchens konnten ruhig noch etwas spitzer werden.

Er studierte die Züge seines Gesichts – es war eine Gewohnheit, fast so etwas wie eine Obsession, das zu tun, wann immer er sich in einem Spiegel gegenüberstand –, erinnerte sich daran, wie er ausgesehen hatte, als Kind und als Heranwachsender, und versuchte zu verstehen, was er an sich gehabt haben mochte, dass keines der Mädchen, in das er sich verliebt hatte, etwas mit ihm zu tun haben wollte. Das hatte er nie begriffen. Er war nicht hässlich, ganz gewiss nicht, und das war auch früher nicht anders gewesen. Andere hatten hässlicher ausgesehen und trotzdem Freundinnen gehabt, sogar dieser Kerl aus dem Nachbarhaus mit der Hasenscharte!

Früher hatte er darunter gelitten. Bis er dann eine größere, verzehrendere, seine eigentliche Leidenschaft entdeckt hatte. Seitdem war es nur noch Gewohnheit, darüber nachzudenken.

Außerdem war sein momentanes Problem nicht, wie sein Gesicht einmal ausgesehen hatte, sondern wie es heute aussah. Wenn er in den Spiegel blickte, sah er einen blonden, blauäugigen Mann vor sich, einen Arier, wie er im Schulbuch stand. Männer wie er hielten sich in diesen Tagen nicht im sicheren Heimatland auf, sondern kommandierten Panzerverbände an der Ostfront, dort, wo die Serie deutscher Siege ein Ende gefunden hatte. Männer wie er schossen oder wurden erschossen, und auf keins von beidem verspürte Eugen Lettke die geringste Lust. Dem deutschen Volk Lebensraum im Osten zu verschaffen war etwas, das ihn nicht die Bohne interessierte. Wenn andere dafür den Hals hinhalten wollten, so mochten sie das von ihm aus tun, solange sie ihn damit in Ruhe ließen.

Leider war ihm nur zu klar, dass sie ihn nicht in Ruhe lassen würden.

Bisher hatten ihn zwei Dinge vor der Einberufung geschützt: anfangs der Sachverhalt, dass er der einzige Sohn einer Kriegswitwe und sein Vater zudem ein hochdekorierter Kriegsheld gewesen war, danach, als es ernst wurde und vielen mit ähnlicher Biografie der UK-Status aberkannt wurde, die Regelung, dass jede geheimdienstliche Tätigkeit automatisch als kriegswichtig zu betrachten sei.

Doch inzwischen bot auch das keine Sicherheit mehr. Nicht in Zeiten, in denen selbst Arbeiter aus Rüstungsbetrieben an die Front geschickt und am Arbeitsplatz durch Frauen oder sogar Kriegsgefangene ersetzt wurden!

Die Sache war die, dass er die Elektropost des Chefs mitlas. Was selbstverständlich strengstens verboten war, aber, nun ja, sie waren schließlich in einem Geschäft tätig, das sich darum drehte, Geheimnisse auszuspähen, und zwar am liebsten streng verbotene, oder etwa nicht? Wie auch immer, er hatte Adamek jedenfalls so lange unauffällig auf die Finger geschaut, bis er dessen Parole herausgefunden hatte, und seither verfolgte er seine Korrespondenz. Deshalb wusste er, dass Himmler heute nicht hier war, um mal nachzuschauen, ob sie hinreichend hübsche Bureaus hatten, sondern um zu entscheiden, ob das, was sie darin taten, auch wirklich kriegswichtig war. Sollte der Reichsführer zu dem Schluss kommen, dass dem Reich besser damit gedient war, den NSA einzukassieren und dem Reichssicherheits-Hauptamt als Unterabteilung einer Unterabteilung zuzuschlagen, dann würde genau das geschehen. Die betrieben dort schließlich auch Aufklärung, nur eben auf die klassische Weise, aber es würde sich zweifellos ein organisatorisch geeignetes Plätzchen finden.

Man hatte Adamek ferner wissen lassen, dass in diesem Falle die Belegschaft ein weiteres Mal verringert werden würde, insbesondere was die Anzahl der männlichen Mitarbeiter anbelangte, denn jeder waffenfähige Mann werde in dieser schwierigen Zeit an der Front gebraucht, im Kampf für den Endsieg.

Man musste kein Prophet sein, um zu wissen, wen es treffen würde. Den Chef jedenfalls nicht, der saß im Rollstuhl. Den Junior vom Telephondienst, Rudi Engelbrecht mit dem Hinkebein, auch nicht. Was Winfried Kirst, diesen dürren Eigenbrötler, und Gustav Möller mit seiner dicken Brille anbelangte, gab es Argumente dafür und Argumente dagegen; einer der beiden würde wahrscheinlich davonkommen. Aber Dobrischowsky und er waren fällig. Wenn das NSA aufgelöst wurde, würden sie mit dem Gewehr in der Hand gegen den Russen marschieren, das war so sicher wie das »Hitler« nach dem »Heil«. Und im Unterschied zu allen anderen Soldaten an der Ostfront würden sie genau wissen, wie beschissen die Lage war.

Deswegen musste das heute klappen. Deswegen mussten sie das so durchziehen, dass Himmler die Augen aus dem Kopf fielen.

Eugen Lettke zwirbelte sich ein letztes Mal die Bartspitzen, dann drehte er den Wasserhahn wieder zu. Es quietschte so laut und misstönend, wie er es gewohnt war.

Und wie er es bleiben wollte. Er wollte nicht in den Krieg ziehen und niemanden totschießen – aber das hieß nicht, dass er nicht wusste, wie man kämpfte!

 

***

 

Der Saal war abgedunkelt. Der Projektor warf ein scharf abgegrenztes Abbild dessen auf die Leinwand, was der Bildschirm vor Helene Bodenkamp zeigte, der Lüfter surrte, die Bogenlampe verbreitete ihren unverkennbaren Geruch nach verbranntem Staub und heißer Kohle. Einige der Männer kämpften mit Zigarettenrauch dagegen an.

Keiner von den SS-Leuten allerdings. Die hielten sich im Hintergrund, reglos wie Statuen.

»Unsere Arbeit«, begann August Adamek mit sanfter, eindringlicher Stimme, »spielt sich auf zwei Ebenen ab. Die erste Ebene ist unmittelbar einsichtig, was ihre Funktionsweise anbelangt: Wir haben Zugriff auf alle Daten, die im Reich erzeugt werden, und können diesen Zugriff auf vielfältige Weise nutzen. Wir können jeden Text lesen, den irgendjemand verfasst, genau wie jeden Elektrobrief, der innerhalb des Reiches verschickt oder empfangen wird. Wir können jeden Kontostand abfragen, jedes Telephon orten, wir können ermitteln, wer welche Fernsehsendung oder Radiosendung gesehen beziehungsweise gehört hat, und unsere Schlüsse daraus ziehen. Selbstredend können wir auch jede Diskussion mitlesen, die im Deutschen Forum stattfindet, auch diejenigen mit geschlossenem Teilnehmerkreis, und auf diese Weise Personen identifizieren, die sich irgendwann einmal in einer Weise über den Führer, die Partei oder den Nationalsozialismus geäußert haben, die es ratsam macht, die Aufmerksamkeit der dafür zuständigen Stellen auf sie zu lenken.«

Allgemeines Nicken. Auch Himmler nickte.

»Hierbei stoßen wir auf zwei Hindernisse«, fuhr Adamek fort. »Das erste ist die schiere Masse an Daten. Wir können zwar jedes Dokument lesen, aber wir können nicht alle Dokumente lesen – das könnten wir nicht einmal dann, wenn wir tausendmal so viele Mitarbeiter hätten, wie wir haben.«

Ehe Himmler auf die Idee kommen konnte, Adamek verlange einfach nur mehr Mitarbeiter – ein Wunsch, der angesichts der Kriegssituation völlig unerfüllbar gewesen wäre –, fuhr er fort: »Unsere Waffe gegen dieses Hindernis sind unsere Komputer. Wir lassen sie die Datenbestände nach bestimmten verräterischen Stichwörtern durchforsten, setzen also Suchfunktionen ein, die wir zudem stetig verbessern, damit sie uns möglichst relevante Ergebnisse liefern.«

Himmler nickte noch einmal, schien sich allerdings schon wieder zu langweilen.

»Das zweite Hindernis ist, dass es sich inzwischen herumgesprochen hat, dass man im Deutschen Forum aufpassen muss, was man schreibt. Sprich, die Feinde unseres Volkes geben sich nicht mehr so unbefangen zu erkennen, wie sie es noch vor einigen Jahren getan haben oder gar vor der Machtergreifung. Tatsächlich sind die Forumseinträge vor 1933 in politischer Hinsicht die ergiebigsten. Doch seither ist eine neue Generation herangewachsen, und es stellt sich die Frage, wie man die schwarzen Schafe unter den Jungen finden kann.«

»Ah«, ließ sich Himmler vernehmen. »Jetzt kommt das Schwarze Forum ins Spiel, nehme ich an.«

»Exakt.« Adamek nickte, und es wirkte auf eine gefährliche Weise so, als hielte er sich für den Lehrer und den Reichsführer SS für einen zu lobenden Schüler. »Wir haben ein Forum eingerichtet, an dem man ohne Bürgernummer und Parole teilnehmen kann, also auf den ersten Blick anonym. Wir haben es mit einigen reichsfeindlichen Äußerungen gefüllt, für die wir uns beanstandete Einträge aus dem Deutschen Forum zum Vorbild genommen haben, und dann einfach abgewartet.«

Er nickte Dobrischowsky zu, der eine Spur zu eifrig erläuterte: »Technisch bedingt gibt es im Weltnetz keine echte Anonymität. Man weiß von jedem einzelnen Buchstaben jederzeit genau, wann er von welchem Eingabegerät ins System gekommen ist. Bei dem Eingabegerät kann es sich um einen Komputer handeln; dieser ist identifizierbar und gehört in der Regel jemandem. Haben wir es mit einem öffentlichen Komputer zu tun – an einer Schule, in einer Bibliothek, auf einem Postamt oder dergleichen –, dann lässt sich der Eingabe meistens über eine Telephonortung eine Person zuordnen. Handelt es sich bei dem Eingabegerät um ein Telephon, ist eine Identifizierung ohnehin gegeben.«

»Und uns überlassen Sie es, uns einen plausiblen Grund auszudenken, wieso wir uns die Personen zur Brust nehmen, die Sie uns melden«, beschwerte sich Himmler.

Adamek neigte den Kopf. »Wenn auch nur das Gerücht aufkommen sollte, dass Äußerungen im Schwarzen Forum nicht wirklich anonym sind, würde die ganze Sache wirkungslos. Und ein zweites Mal ließe sich so etwas nicht aufbauen.«

»Ja, ja, verstehe ich«, meinte Himmler fast jovial. »Das ist die zweite Ebene Ihrer Arbeit, die Sie erwähnten, nehme ich an?«

Adamek sah ihn an und schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. »Nein«, sagte er sanft. »Zu der komme ich jetzt.«

Er gab seinem Rollstuhl einen Schubs, rollte bis direkt unter das helle Rechteck auf der Leinwand und hielt an.

»Alles, wovon wir bis jetzt gesprochen haben, kratzt nur an der Oberfläche«, erklärte er. »Die eigentliche Macht liegt in der Möglichkeit, für sich genommen scheinbar harmlose Daten mithilfe des Komputers auf eine Weise zu verknüpfen, die zu ungeahnten Einsichten führt. Das ist die zweite Ebene unserer Arbeit und diejenige, die wir besser als sonst irgendjemand auf der Welt beherrschen. Wir sind, was diese Art Auswertungen anbelangt, eine eingespielte Truppe, in der Konzepter und Strickerinnen Hand in Hand arbeiten. Einen der Ansätze, die wir entwickelt haben, wollen wir Ihnen heute präsentieren.«

Himmler lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Hände an den Fingerspitzen zusammen. »Schön«, sagte er. »Dann präsentieren Sie mal.«

Adamek ließ sich von der unüberhörbaren Skepsis in der Stimme des Reichsführers nicht im mindesten irritieren. Das wunderte niemanden, der ihn kannte; sich irritieren zu lassen lag einfach nicht in seinem Wesen. Deswegen saß er schließlich auch im Rollstuhl. Es war ein Ski-Unfall gewesen. Jeder hatte ihn gewarnt, die Piste sei gefährlich, doch er hatte sich nicht irritieren lassen.

»Unser Ansatz verdankt seine Wirksamkeit einer Entscheidung des Führers, die aus unserer Sicht ein wahrer Geniestreich war«, begann Adamek. »Ich spreche von der Entscheidung, das Bargeld abzuschaffen. Seit der Einziehung aller Banknoten und Münzen zum 1. Juli 1933 ist im gesamten Reich nur noch mit Geldkarte gezahlt worden, beziehungsweise seit der Verbreitung des Volkstelephons ab 1934 zunehmend auch direkt damit, der größeren Bequemlichkeit wegen.«

»Diese Maßnahme zielte in erster Linie darauf ab, uns aus der Zinsknechtschaft des jüdischen Großkapitals zu befreien«, korrigierte Himmler. »Und nebenbei Schwarzmarktgeschäften, der Korruption und ganz allgemein dem Verbrechen die Grundlage so weit wie irgend möglich zu entziehen.«

Adamek nickte höflich. »Das waren zweifellos die Beweggründe des Führers, aber um die geht es mir nicht, sondern um den Effekt, den seine Entscheidung hatte. Der Effekt ist nämlich der, dass wir dank dessen genau wissen, was jeder einzelne Mensch, der innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs lebt, in den vergangenen neun Jahren gekauft hat, und auch, wann er es gekauft hat, wo er es gekauft hat und wie viel er dafür bezahlt hat. Stimmen Sie mir bis dahin zu?«

Auf einen unmerklichen Wink von ihm hatte Helene Bodenkamp eine vorbereitete Tabelle aufgerufen, die nun auf der Leinwand erschien: Mehrere Spalten, die jeweils mehrere lange Nummern enthielten, gefolgt von einem Tagesdatum, einer Uhrzeit, einer Mengenangabe und einem Betrag in Reichsmark.

»In der Praxis handelt es sich dabei um eine enorm große, aber sehr einfache Tabelle. Hier sehen wir einen Auszug daraus, und zwar alle Einkäufe, die ich selber getätigt habe. Die Nummer in der ersten Spalte, die, wie Sie sehen, überall die gleiche ist, ist meine Bürgernummer. Die zweite Spalte enthält die Bürgernummer der Person oder die Firmennummer der Firma, an die das Geld gegangen ist. Die dritte Spalte enthält im Falle eines simplen Einkaufs die Artikelnummer, die jedem handelbaren Gegenstand in Deutschland zugeordnet sein muss, oder eine Vertragsnummer, falls es sich um Zahlungen im Rahmen eines Vertrags handelt – ein Beispiel dafür sehen Sie in der zweiten Zeile; das ist die Zahlung der Monatsmiete meiner Wohnung –, oder eine Anlassnummer, wenn es sich um eine sonstige Zuwendung handelt. In der siebten Zeile steht hier die Kennziffer 101, die für Geldgeschenke unter Verwandten zu verwenden ist: Hier war es der Geburtstag meines Neffen Hermann, dem ich zwanzig Mark geschenkt habe. Die letzte Spalte vor dem Betrag enthält eventuelle Mengenangaben.«

Wieder ein Wink an die Programmstrickerin. Die Tabelle schrumpfte zusammen, füllte sich von unten her auf.

»Nun haben wir einen weiteren Filter über diese Liste gelegt, nämlich einen, der anhand der Artikelnummern nur meine Lebensmittelkäufe zeigt«, erläuterte Adamek.

Himmler furchte skeptisch die Stirn. »Woran erkennt man das?«, wollte er wissen. »Welcher Artikel ist ein Lebensmittel? Die Nummern sehen alle völlig unterschiedlich aus, abgesehen von der Artikel-Kennziffer am Anfang.«

»Das sieht man der Artikelnummer nicht an, die Nummern werden fortlaufend vergeben«, erwiderte Adamek. »Aber bei der Anlage jedes Artikels werden alle erforderlichen Angaben hinterlegt, und zwar in einer anderen Tabelle. Fräulein Bodenkamp, zeigen Sie doch mal den Eintrag der Artikeltabelle zu einer der Zeilen, sagen wir, die erste?«

Das Bild verschwand, machte einer Übersicht Platz. Man sah die Artikelnummer, darunter stand: Gloria Kartoffeln

Kategorie: Lebensmittel

Rationiert: Nein

Verweis in Materialtabelle: 1004007

»Hier haben wir die Kategorie angezeigt. Es handelt sich um ein Lebensmittel, wir müssen also, wenn wir weitere Eigenschaften des Artikels abfragen wollen, in die Tabelle Lebensmittel gehen. Fräulein Bodenkamp?«

Sie tippte ein paar Befehle ein, dann erschien eine neue Übersicht:

Material-Nummer: 1004007

Beschreibung: Kartoffeln allgemein

Nährwert: 77 Kalorien

Einheit: 100 g

Und so weiter, eine Liste von Einträgen zu Vitaminen und dergleichen, länger als der Bildschirm.

»Wir sehen also, die Kartoffeln, die ich am Samstag vor zwei Wochen gekauft habe, haben einen Nährwert von 77 Kalorien pro 100 g. Gekauft habe ich zwei Kilogramm …«

»Darf ich fragen, wie Sie das machen?«, unterbrach ihn Himmler. »Im Rollstuhl?«

Adamek neigte den Kopf. »Nun, natürlich kaufe ich nicht selbst ein. Ich habe einen jungen Helfer, der das für mich erledigt. Ich gebe ihm eine Liste mit und meine Geldkarte und überlasse ihm alles Weitere.«

Himmler nickte knapp. »Verstehe. Fahren Sie fort.«

Adamek drehte sich mit seinem Rollstuhl herum und betrachtete das angezeigte Bild, bis er den Faden wieder gefunden hatte. »Wie gesagt, ich habe zwei Kilogramm Kartoffeln gekauft, also einen Nährwert von 1540 Kalorien erworben. Diese Umrechnung von Lebensmittelkäufen in Nährwert können wir nun durch ein Programm automatisch erledigen lassen.«

Wieder ein Nicken in Richtung der Strickerin, wieder wechselte das Bild. Die Tabelle der Lebensmitteleinkäufe erschien erneut, diesmal aber nur mit Bürgernummer, Datum und Anzahl der Kalorien.

»Und das Ganze«, fuhr Adamek fort, »können wir natürlich auch leicht monatsweise aufsummieren. Fräulein Bodenkamp, wenn ich bitten dürfte?«

Eine neue Liste erschien.

Die Überschrift lautete: August Adamek, geboren 5.5.1889, wohnhaft Weimar, Junkerstraße 2

Darunter war aufgelistet:

September 1942 – 73.500 Kalorien

August 1942 – 72.100 Kalorien

Juli 1942 – 68.400 Kalorien

Juni 1942 – 78.300 Kalorien

»Das sind die Nährwerte, die ich in den letzten Monaten gekauft und in der Folge auch verzehrt habe«, erklärte Adamek. »Ungefähr zweieinhalbtausend Kalorien pro Tag, das kommt hin.« Er rollte ein Stück zur Seite. »Nun fügen wir noch einen letzten Schritt hinzu, damit die Auswertung allgemein aussagekräftig wird, und zwar dergestalt, dass wir diese Tabelle mit den Daten des Standesamtes verknüpfen. Auf diese Weise erhalten wir die Kalorien pro Haushalt. Teilen wir diese Zahl noch durch die Anzahl der Mitglieder dieses Haushalts – Vater, Mutter, Kinder, Großeltern und so weiter –, dann landen wir schließlich bei einer Liste, die alle Haushalte aufführt und wie viele Kalorien die Mitglieder dieser Haushalte im Schnitt pro Monat verbrauchen.«

Die Augen des Reichsführers wirkten unnatürlich groß hinter seiner runden Brille. Er nickte, sehr, sehr langsam, aber er nickte. Schien zu begreifen, worauf das alles hinauslief.

»Im Fall meiner Person bleibt das Ergebnis dasselbe, da ich allein lebe«, fuhr Adamek fort. »In anderen Fällen wird das Ergebnis niedriger liegen als zweieinhalbtausend Kalorien, zum Beispiel, wenn Babys oder Kleinkinder zu einem Haushalt gehören, die natürlich weniger essen als Erwachsene. Aber wenn der Schnitt wesentlich höher liegt …« Er hielt inne, sah in die Runde, fixierte dann wieder den Reichsführer SS. »Wir müssen selbstverständlich eine gewisse Schwankungsbreite einkalkulieren. Männer, die schwer körperlich arbeiten, haben einen höheren Energiebedarf. Aber wenn der durchschnittliche Kalorienverbrauch eines Haushalts eine gewisse Obergrenze überschreitet … und das in diesen Zeiten, in denen manche Lebensmittel rationiert sind … ein solcher Ausreißer kann ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass in dem betreffenden Haushalt mehr Menschen leben, als gemeldet sind. Zum Beispiel«, fügte er hinzu, »Menschen, die vor dem Gesetz versteckt werden.«

Himmler hatte die Hände gefaltet, rieb sie sich bedächtig. »Das klingt gut«, sagte er anerkennend. »Das klingt sehr gut.« Er kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Aber das würde ich doch gerne in der Praxis demonstriert sehen.«

Adamek lächelte. Seine Kollegen lächelten ebenfalls. Darauf waren sie natürlich vorbereitet.

»Nichts lieber als das«, meinte Adamek. »Nennen Sie eine Stadt, und wir erstellen eine Liste verdächtiger Haushalte. Hier. Jetzt. Vor Ihren Augen.«

»Irgendeine Stadt?«, fragte der Reichsführer.

»Irgendeine Stadt«, bestätigte Adamek.

Himmler überlegte kurz. Dann sagte er: »Amsterdam.«

Das Lächeln auf den Gesichtern der Männer erlosch schlagartig.

»Amsterdam?«, vergewisserte sich Adamek.

»Ist das ein Problem?«, fragte Himmler.


Lesen Sie weiter in Teil 3 (ab 29.8.2018) oder in:

"Nationales Sicherheits-Amt"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2625-9
Erscheint am 28. 9. 2018