Eines Menschen Flügel

 

Eines Menschen Flügel

Roman
von
Andreas Eschbach


 

 

Owen

Der unerreichbare Himmel

»Was sind die Sterne?«, fragte Owen, als er noch ein Kind war.

»Die Sterne«, sagte der alte Hekwen, den man den Weisen nannte, »sind der Ort, von dem wir kommen.«

»Und wo sind die Sterne?«

»Jenseits des Himmels«, sagte Hekwen und deutete empor zum milchig-grauen Firmament, hinter dem das große Licht des Tages leuchtete und die Welt erhellte.

»Ich will sie sehen«, sagte Owen.

Der Weise, dessen Schwingen schon grau und schlaff waren vom Alter, schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Owen. Der Himmel ist unerreichbar hoch. Keines Menschen Flügel können ihn überwinden.«

Owen sah in die Höhe und fand das ungerecht. »Das glaube ich nicht«, sagte er. Noch am gleichen Tag erkletterte er einen der höchsten Startpunkte des Nestbaums, breitete seine jungen Flügel aus, ließ den auflandigen Wind hineinfahren und sprang. Er nutzte die aufsteigende Strömung und die Kraft seiner Flügel, um höher zu steigen als je zuvor. Die Welt fiel unter ihm zurück, bis die meilentiefen Schluchten mit ihren alles zermalmenden Wasserfällen aussahen wie Furchen und Rinnsale und die riesigen Nestbäume wie dürres Gewächs, und er stieg und stieg in einen Himmel von rauchigem Grauweiß, der gleichwohl nicht näher zu kommen schien, so sehr er sich auch anstrengte. Schließlich verließen ihn seine Kräfte, die Brustmuskeln schmerzten, die Flügelspitzen begannen zu zittern, und er musste aufgeben und nach Hause zurückkehren.

»Glaubst du es nun?«, fragte Hekwen, als Owen das Geflecht der Nestbauten in der Krone ihres Baumes keuchend wieder erreicht hatte.

»Nein«, sagte Owen dickköpfig, aber er versuchte es nicht noch einmal.

Doch er vergaß es nicht. Solang die Trockenzeit dauerte, badeten sie in den hohen Flüssen, da, wo es sicher war, weil Wasser floss, ließen sich von der Strömung über die Kante tragen und hinab in die fürchterlichen Tiefen, um sich möglichst spät aus der Gewalt des silbern herabschießenden Wasserfalls zu lösen – doch wenn Owen dann mit langen Flügelschlägen an der tosenden, gischtenden Säule entlang wieder hinaufflog zu den anderen, dachte er, dass es sich so anfühlen müsse, den Himmel zu durchstoßen. Als die Windzeit begann, zog er mit den anderen Kindern halbe Tage lang Kreise, weit draußen über dem grünen Meer, wo es kochte von den heißen Quellen und einem die Süßmücken schwarmweise in den Mund flogen – aber er behielt den Himmel im Auge wie einen Feind, studierte das strähnige Muster aus Dunkel und Hell darin und stellte sich vor, wie es sein mochte, dort anzukommen und hindurchzutauchen und die andere Seite zu erreichen.

Dann kam die Regenzeit, ein steter Sturzbach von Wasser, den auch die Riesenblätter nicht abhalten konnten. Die Kinder hockten in den nass an den Ästen des Nestbaums klebenden Hütten, lernten zählen und rechnen, die Schrift der Ahnen und die Geschichte ihres Volkes. Sie erfuhren, dass die Ahnen von den Sternen gekommen waren, ja, von jenseits des Himmels waren sie herabgestiegen in einem großen, silbernen Fahrzeug. Sie hörten zu ihrem Erstaunen, dass die Ahnen noch keine Flügel besessen hatten, und versuchten sich vorzustellen, wie diese auf dem Boden gelebt hatten, im düsteren Unterholz, in Furcht vor dem Margor und geplagt von den grauen Ratzen. Doch die Ahnen hatten sich auf Künste verstanden, die seither verloren gegangen waren. Sie hatten es vermocht, von den Pfeilfalken die Flügel und die Kraft zu nehmen und beides ihren Kindern einzupflanzen, die seit dieser Zeit Flügel besaßen und fliegen konnten, als seien sie die Herren der Lüfte, und kein Mensch musste mehr im Unterholz leben, seit der letzte der Ahnen gestorben war vor tausend Jahren.

Dann folgte die Nebelzeit. Silberner Dunst lag morgens über den Wäldern, verdeckte die Abgründe der Schluchten wie ein undurchdringlicher Schleier, und die Wasserfälle schrumpften zu dünnen, dampfenden Rinnsalen. Die Schleier sahen undurchdringlich aus, doch sie waren es nicht. Wenn man hindurchflog, spürte man nur einen kalten Hauch, aber man musste vorsichtig sein, weil man nicht weit sah. Das brachte Owen auf den Gedanken, über die Natur des Himmels nachzudenken. »Ist der Himmel«, wollte er wissen, »womöglich nur eine Art ewiger Nebel? Eine Wolkendecke, die niemals verschwindet?«

Satwen, der die Kinder unterrichtete, prüfte, was die Schriften dazu wussten, und siehe da: Genau so verhielt es sich. Der Himmel war eine hohe, unvergängliche Wolkenschicht, das hatten schon die Ahnen gesagt, die sich in derlei Dingen nicht irrten.

Die Frostzeit brach herein, ließ die Wasserfälle erstarren und verstummen, überzog die riesigen Lederblätter der Nestbäume mit silbrigem Reif und erfüllte die Luft mit dem märchenhaften Klingen gefrorener Lianen, wenn sie der kalte Seewind gegeneinander schlagen ließ. In eisernen Schalen glommen Kiurka-Samen in der Glut und durchdrangen die Nesthütten mit ihrem würzigen Duft, und an hellen Tagen kletterten die Verwegensten ins Freie, um Eisfrüchte zu ernten. Dies war die Zeit der Lieder, des Flickzeugs und des Nachsinnens über das, was gewesen war, und das, was kommen würde im neuen Jahr.

Owen erlernte die Kunst, Entfernungen mittels Triangulation zu bestimmen, aber nicht um die Distanz zu Inseln draußen im Meer oder zu Bergen im Hinterland zu ermitteln wie die andern: Er baute sich, als wieder Trockenzeit war, ein Triangulationsbesteck, um die Höhe des Himmels zu messen.

Ihm war aufgefallen, dass man manchmal Muster am Himmel ausmachen konnte, wenn man genau hinsah – Gestalten in Grau und Weiß, die für halbe oder viertel Tage sichtbar waren und sich dann wieder auflösten. Wann immer er ein solches Muster entdeckte, peilte er es mit seinem Triangulationsbesteck an, maß die Winkel und flog anschließend, das schwere Besteck an den Körper gepresst, weiter zu einer Klippe, deren Entfernung zum Nest er genauestens bestimmt hatte, um von dort aus noch einmal zu peilen und zu messen. Nach einigen Messungen war er sich seiner Sache sicher: Der Himmel war sehr hoch – aber nicht unendlich hoch. Tatsächlich war der Himmel vom Nestbaum nicht weiter entfernt als die heißen Quellen, nur eben in die Höhe.

Owen begann zu trainieren.

 

Den Himmel berühren

Zunächst fiel den anderen Kindern kaum auf, dass es plötzlich fast immer Owen war, der einen Wettflug vorschlug, zur Klippe, zu den heißen Quellen, zur Muschelbucht hinab. Zumal Owen so gut wie nie gewann. Aber Owen meldete sich auch, wenn die Erwachsenen Helfer brauchten zum Lastentransport, ließ sich bereitwillig Tragegeschirre anlegen, was allen anderen Kindern ein Graus war, und ging endlich dazu über, ein neugeborenes Hiibu jeden Tag einmal im Geschirr hinunter in den Fjord zu fliegen, um es zu tränken. Weil das Hiibu jeden Tag ein wenig größer und schwerer wurde, wurde Owen im Lauf der Zeit immer stärker, fast ohne etwas davon zu merken. Schließlich wollte niemand mehr gegen ihn um die Wette fliegen, weil Owen immer gewann. Als die nächste Frostzeit kam, war Owen der stärkste und schnellste Flieger des Stamms.

Das ganze Jahr über hatte er seine Messungen der Himmelshöhe fortgesetzt und herausgefunden, dass der Himmel in der Windzeit am höchsten, am niedrigsten dagegen am Ende der Nebelzeit war, kurz bevor die Frostzeit begann. Doch als er wieder einmal versuchte, ihn zu erreichen, war es wie beim ersten Mal: So sehr er sich auch bemühte, er schien dem Himmel nicht näher zu kommen.

»Glaubst du es immer noch nicht?«, fragte Hekwen mit gutmütigem Lächeln, als Owen klammgefroren und erschöpft aus dem Landenetz kroch.

»Nein«, sagte Owen grimmig.

Er flog wieder mit den anderen, aber ihre kurzatmigen Spiele begannen ihn zu langweilen, wie sie ihrerseits zunehmend davor zurückschreckten, ihn zu begleiten, wenn er eine neue Herausforderung suchte: ohne Zwischenlandung bis zu den Inseln des Leik-Stammes zu fliegen, beispielsweise. Das könne er allein machen, hieß es, und so machte er es allein. Er flog den ganzen Tag und die Nacht hindurch ohne Pause, im Dunkeln nur geleitet vom kleinen Licht der Nacht, das das Meer in verzaubernden Schimmer tauchte. Als er wieder zuhause ankam, war er erschöpft, und obwohl er geschafft hatte, was er sich vorgenommen hatte, unzufrieden. Was er wollte, war ja nicht, weite Distanzen zu bewältigen, sondern große Höhen!

Er begann die Vögel zu studieren. Die Ahnen hatten ihnen die Flügel der Vögel gegeben, aber das war erst wenig mehr als tausend Jahre her. Zweifellos mussten die Tiere, die schon seit dem Anfang der Zeit fliegen konnten, die besseren Flieger sein – und vielleicht konnte er aus ihrer Beobachtung noch etwas lernen.

Nur einer, der schmächtige Jiuwen, begleitete ihn auf seinen Beobachtungszügen. Gemeinsam lagen sie in Höhlen an der Küste und verfolgten das Treiben der Strandsegler, Küstenflatterer, Tauchschwirrer und Raubdrifter. Jiuwen führte begeistert Buch über ihre Beobachtungen und hielt die Vögel in wunderbaren Zeichnungen fest. Owen kam zu dem Schluss, dass die Küstenvögel ziemlich faule und schwerfällige Gesellen waren – vermutlich, weil es ihnen so leicht fiel, Beute zu machen, denn die Küste war voller Würmer, Mücken und anderem Getier. Er drängte darauf, dass sie ins Hinterland vordrangen und die Vögel der kargeren Vorberge beobachteten. Damit verbrachten sie fast die gesamte Trockenzeit.

Schließlich waren es ausgerechnet die Pfeilfalken – von denen die Flügel der Menschen ja tatsächlich abstammten –, die Owen etwas darüber lehrten, wie man Höhe gewann.

Die Pfeilfalken waren mächtige Raubvögel, die weit über den anderen Vögeln kreisten, ausdauernd, ohne Flügelbewegung, auf schwache Tiere lauernd. Entdeckten sie eines, legten sie die Flügel an und schossen herab wie Pfeile, packten ihr Opfer mit ihren messerscharfen Krallen, rissen es mit sich in die Tiefe und verschwanden damit unter dem Blätterdach des endlosen Walds. Jiuwen geriet fast außer sich vor Begeisterung, als sie das beobachteten, doch Owen war von etwas ganz anderem fasziniert: wie der schwere Pfeilfalke seine enorme Ausgangshöhe erreichte.

Im ersten Anlauf erstieg er eine Höhe, die sogar noch unter der lag, in der sich die meisten Schwärme kleinerer Vögel bewegten. Doch dann begann er ein atemberaubendes Manöver, um Höhe zu gewinnen. Als ob er Beute ausgemacht hätte, legte der Pfeilfalke die Flügel an und stürzte sich in die Tiefe – breitete die Flügel jedoch gleich darauf wieder aus und vollführte kleine, treibende Schläge, die den Sturz noch beschleunigten. Der war zu diesem Zeitpunkt kein Sturz mehr, sondern begann, in eine flache, schnelle Schussbahn überzugehen. Ab einem bestimmten Moment hielt das Tier inne und raste mit starren Flügeln weiter, durch den tiefsten Punkt hindurch und wieder empor, mit weitaus mehr Geschwindigkeit als vorher. Wenn es die Ausgangshöhe erreichte, tat es das mit einem Schwung, der es von selbst darüber hinaustrug, und damit nicht genug: Der Pfeilfalke setzte nun abermals seine Flügel ein, machte seltsame, raumgreifende´ Bewegungen, wie Owen sie nie zuvor gesehen hatte. Sie ließen den Pfeilfalken immer weiter hinauf gelangen, weit über das anfängliche Niveau. Von dort aus vollführte er das Manöver, das er so graziös und elegant wie einen Tanz beherrschte, noch vier oder fünf Mal, bis er schließlich in einsamer Höhe am Firmament seine lauernden Kreise ziehen konnte.

»Das ist es!«, rief Owen aus. Jiuwen verstand nicht, was Owen meinte, und auch nicht, was ihn dazu antrieb, das Manöver der Pfeilfalken sogleich nachzumachen.

Was ihm gründlich misslang. Als er versuchte, den Sturz zu beschleunigen, geriet er ins Trudeln und überschlug sich. Als er die flache Kurve durchflog, schaffte er es nicht, wieder aufzusteigen. Und die seltsamen Flügelschläge, mit denen die Pfeilfalken den Schlussaufstieg bewerkstelligten, wollten ihm gleich überhaupt nicht gelingen.

In den folgenden Tagen musste Jiuwen feststellen, dass Owens Interesse an der Beobachtung von Vögeln erloschen war. Nur die Pfeilfalken und ihre Technik des Emporschwingen interessierten ihn noch, und auch das nur, weil er es ihnen nachmachen wollte. Da Jiuwen keine Lust hatte, Owen den ganzen Tag bei Flugversuchen zuzusehen, flogen sie bald wieder getrennte Wege. Jiuwen kehrte an die Küste zurück, wo die seiner Meinung nach hübscheren und interessanteren Tiere lebten, und widmete sich erneut seinen Zeichnungen.

Owen aber verbrachte von nun an bis zum Anbruch der Regenzeit jeden Tag im Hinterland und beobachtete die Pfeilfalken, studierte und imitierte sie, als sei es seine Absicht, einer von ihnen zu werden. Er erkannte bald, dass in dem, was ihn von den Tieren unterschied, die Antwort verborgen lag: Er besaß zwar die Flügel eines Pfeilfalken, nicht aber dessen Körper, und so war es nicht damit getan, die Bewegungen der Vögel zu imitieren – er musste sie für sich neu erfinden!

Aus dem Sturz Geschwindigkeit gewinnen, diese in Schwung für eine aufwärtsgerichtete Flugbahn umsetzen und mit Flügelschlägen, die keinerlei Auftrieb, sondern nur weitere Geschwindigkeit erzeugten, über die ursprüngliche Höhe hinaussteigen – das war das Prinzip. Jede einzelne Phase davon galt es für sich zu üben und zu entwickeln, um am Schluss alles zu einer einzigen, fließenden Bewegung zu verbinden.

Die Regenzeit begann mit ihren Gewittern und Schauern, und wie immer war es, als bräche das Meer über das Land herein. Owen hockte wieder mit den anderen in den dampfenden Zimmern über den Büchern, doch nachts träumte er von den Pfeilfalken und ihren Schwüngen, war einer von ihnen, glitt mit ihnen durch die Lüfte, höher und höher, bis er den Himmel berührte. Einmal träumte er das: den Himmel zu berühren. Und er erwachte genau in dem Moment, in dem es geschah, schreiend, und saß dann da und sah hinaus ins Dunkel, wo der Regen nachgelassen hatte, nur noch fern über dem Meer eine geisterhaft schimmernde Regenwand stand und der Wald erfüllt war von millionenfachem Trippeln und Tröpfeln.

Tag um Tag wurde es kühler, bis der Regen nachließ und die Nebelzeit begann. Owen fand, dass ihm die sich endlos dahinstreckenden Nebelbänke als Orientierung dienen konnten, wenn er sein Manöver ausprobierte: Er startete dicht über der weißen, dunstigen Ebene, tauchte hinab und wieder empor und konnte dann sehen, wie viel Höhe er dazugewonnen hatte. Tatsächlich war ihm, als verbinde sich bei diesen einsamen Flügen über dem Meer und den Schluchten das, was er vor der Regenzeit geübt und das, was er während der Regenzeit geträumt hatte, zu einem fließenden, spielerisch leichten Manöver, das kaum Kraft zu kosten schien.

Mit seinem verbissenen Streben entfremdete er sich zusehends von den anderen seines Stammes. Die anderen Kinder gingen ihm aus dem Weg. »Owen ist einem irgendwie unheimlich«, hörte er ein Mädchen zu einer Freundin sagen.

»Warum tust du das?«, wollte seine Mutter von ihm wissen. »Du willst mit niemandem zu tun haben – warum? Ist es das, was du willst – ein Einzelgänger werden? Das kann nicht dein Ernst sein. Jeder ist ein Teil der Gemeinschaft, auch du.«

Owen wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Also schwieg er. Seine Mutter schüttelte schließlich seufzend den Kopf und ließ ihn in Ruhe.

Kurz vor der Frostzeit und beim tiefsten Stand des Himmels wagte Owen es zum dritten Mal. Er zog seinen wärmsten Anzug an, fettete sich die Flügel sorgfältig ein und startete im frühen Licht des Tages. Eine starke aufwärtstragende Strömung über der weiten Bucht brachte ihn rasch in eine Höhe, von der aus er seine Schwungmanöver beginnen konnte. Schon das erste glückte, und nach dem fünften oder siebten flog er höher als jemals zuvor. Er schrie vor Begeisterung.

Aber so hoch oben kostete es doch Kraft. Er musste verschnaufen, ruhige Kreise ziehen, etwas von dem Proviant essen, den er mitgenommen hatte. Dann zwei, drei weitere Schwünge und wieder Pause. Er fühlte sich immer noch großartig, doch er schrie nicht mehr, sondern sparte seine Kraft auf.

Immer so weiter. Zwei, drei Schwünge, Pause. Zwei weitere Schwünge, Pause. Immer weiter und weiter. Die Flügel begannen zu schmerzen wie damals bei seinem Flug zu den Leik-Inseln. Die kalte Luft brannte in den Lungen, trocknete ihm die Kehle aus. Er wusste nicht mehr, wie er sich fühlte, sah nur noch den Himmel über sich, der jetzt endlich, endlich näher kam, groß und gewaltig wurde, zum Greifen nahe, zum Dagegenprallen nahe. Schwung, Pause. Schwung, Pause. Aus der Nähe sahen die ewigen Wolken aus wie alte, verknotete Nebelbänke, staubig und ranzig geworden im Lauf der Zeit, weil sie sich niemals hatten auflösen dürfen. Das große Licht des Tages glomm irgendwo hinter ihnen, in ihnen, aber Owen hätte nicht mehr sagen können, woher es tatsächlich kam. Jeder weitere Schwung schien ihn zerreißen zu wollen, jede Pause wurde länger als die vorige. Er vergaß alles, spürte nichts mehr, dachte nicht darüber nach, ob es der hundertste Schwung war oder der zweihundertste. Und er sah längst nicht mehr zurück. Die Küste, die Schluchten mit den gewaltigen Nestbäumen, all das war zu Grau und Grün zerflossen, lag weit unter ihm, vergessen und verloren. Er griff nach dem Himmel, das war alles, was zählte.

Und schließlich – berührte er ihn.

Es war, als versetze ihm jemand einen Schlag. Ein eisiges, wirbelndes Etwas trat nach ihm, stieß ihn ab, ließ ihn taumeln und aufschreien, vor Entsetzen diesmal. Aber er fing sich wieder, glitt eine ganze Weile dahin, dicht unter dem schwer über ihm hängenden Himmel, mit langsamen Flügelschlägen, während sein Herz raste von dem Schreck und er keines klaren Gedankens fähig war.

Er konnte es nicht fassen. Er hatte den Himmel erreicht, schwebte in kalter Höhe, war höher hinauf gelangt als je ein Mensch vor ihm – konnte es wahr sein, dass dies das Ende bedeutete? Dass es weiter hinauf nicht ging?

Er hatte seine Kräfte aufgezehrt, war ausgelaugt, zitterte vor Kälte und Schwäche, aber er versuchte es noch einmal. Mit mühsamen Flügelschlägen, die ihm schier den Rücken zerreißen wollten, kletterte er Spanne um Spanne höher, dichter heran an das düstere Dach der Welt. Und je näher er den ewigen Wolken kam, desto deutlicher spürte er ein wütendes Brausen und Toben darin, eine bedrohliche Kraft, die dort oben tobte, bereit, jeden zu zerfetzen, der sich in ihr Territorium wagte. Er hatte geglaubt, in den Himmel eintauchen zu können wie in eine Nebelbank, hatte erwartet, in erhabenem Dunst weiter emporsteigen zu können, um endlich darüber hinaus zu gelangen, dorthin, wo man die Sterne sehen konnte. Das war ein Irrtum gewesen. Der Himmel war ein stärkerer Gegner, als irgendjemand geahnt hatte.

Owen überließ sich schließlich einem langen, weiten Sinkflug, abwärts, heimwärts. Ihm wurde fast schwarz vor Augen, als er wieder in wärmere Luft gelangte, und kurz bevor er die Küstenlande erreichte, begannen die Spitzen seiner Flügel vor Erschöpfung derart zu zittern, dass er es beinahe nicht mehr bis zum Nestbaum geschafft hätte. Und als er endlich im Landenetz lag, konnte er selber kaum glauben, was er getan hatte.

»Ich habe den Himmel berührt«, sagte er zu Hekwen, der an seinem gewohnten Platz auf der Galerie hockte und getrocknetes Hiibufleisch kaute.

»Das glaube ich nicht«, sagte der Alte.

»Dann lass es«, sagte Owen und zog sich mit schmerzenden Armen aus dem Netz.

Hekwen rieb sich das Kinn. »Den Himmel zu berühren ist eine Sache«, rief er Owen nach. »Ihn zu durchstoßen eine ganz andere.«


Lesen Sie weiter in Teil 2 (ab 1.8.2020) oder in:

"Eines Menschen Flügel"
Roman von Andreas Eschbach
Bastei-Lübbe, Köln
ISBN 978-3-7857-2702-7
Erscheint am 30. 9. 2020