Warnung
vor akuter Dramaturgitis
Als ich sechzehn oder siebzehn Jahre alt war und das mit
dem Schreiben begann, ernsthafte Formen anzunehmen, hatte
ich nicht den Hauch einer Ahnung, daß es so etwas geben
könnte wie Bücher darüber, wie man Romane schreibt, oder
gar Seminare, in denen man derlei übte. Gab es auch nicht,
jedenfalls nicht im Land der Dichter und Denker. In den
USA, genauer gesagt an der Michigan State University,
veranstalteten Damon Knight und Kate Wilhelm um ungefähr
diese Zeit herum den ersten Clarion-Workshop;
sechs Wochen für angehende Autoren der Science-Fiction und
der Fantasy. Davon, wie gesagt, ahnte ich nichts. Was ich
tat, war, mir Bücher anderer Autoren anzuschauen und mich
zu fragen, wie
zum
Kuckuck macht
der/die das? Mich in
einen Unterrichtsraum zu begeben, um Geschichten zu
schreiben, wäre mir vermutlich auch widersinnig
vorgekommen: Schule, das war ein Ort, an dem ich mich
aufhielt, um so zu tun, als lausche ich dem Lehrer, während
ich in Wirklichkeit das Kapitel konzipierte, das ich
nachmittags zuhause schreiben wollte.
Heute dagegen stolpert man fast darüber: Stapelweise liegen
sie inzwischen in den Läden, die Bücher, die einem das
»Handwerk des Schreibens« erklären wollen. Auch im Land der
Dichter und Denker.
Hinsichtlich derartiger Werke gibt es unter denen, die
selber schreiben, zwei Gruppen:
Die einen fühlen sich instinktiv abgestossen. Sie wollen
nichts hören von »Regeln« oder dergleichen. Sie wollen sich
nicht einschränken lassen. Derlei »Techniken«, sagen sie,
können doch nur dazu führen, daß man anfängt,
massenkompatible Dutzendware zu produzieren, oder?
Keine Ahnung, ob das stimmt, denn ich selber gehöre zur
anderen Gruppe. Aber auf jeden Fall betrifft der Rest
dieses Artikels die Vertreter dieser Richtung nicht. Sie
können getrost weiterblättern.
Für mich waren die ersten derartigen Bücher Offenbarungen.
Es gab Methoden, Techniken, Zusammenhänge! Es gab eine
Wissenschaft des Schreibens! Man konnte lernen,
wie man es richtig machte!
Gibt es nicht seit eh und je Hochschulen für Musiker, wo
diese ihre Instrumente erlernen, in Kompositionslehre
unterwiesen werden und dergleichen mehr? Streben nicht seit
eh und je Maler an Kunstakademien, um sich das
Farbenmischen beibringen zu lassen und die Probleme der
perspektivischen Darstellung beherrschen zu lernen? Nur
Schriftsteller bleiben auf sich allein gestellt, ohne Rat
und Anleitung - das ist doch höchst ungerecht!
Ganz so arg ist es nicht. So findet etwa das Mischen von
Farben und die Beherrschung eines Musikinstruments im
Bereich des Schreibens kein Äquivalent. Papier besitzt das
denkbar einfachste vorstellbare User
Interface,
dafür braucht nicht einmal ein Kleinkind Anleitung. Worte
zu schreiben lernt man in der Schule, und an diesen Worten
ändert sich nicht das Geringste, wenn man statt
Erdkundereferaten und Strafarbeiten Romane zu verfassen
beginnt.
Andererseits besuchen die Kollegen von Musik und Bildender
Kunst auch Fächer wie Kompositionslehre oder Perspektive,
und hier lassen sich sehr wohl Parallelen ziehen zur
Dramaturgie, zu Fragen der Plotkonstruktion, der
Psychologie von Romanfiguren, zum Weltenbau und
dergleichen. Man kann sich in der Tat Gedanken darüber
machen, wie man einen Roman am besten beginnt und wie man
ihn am besten beendet, was ein Genre kennzeichnet und wie
man einen Protagonisten optimal einführt.
Aber man kann es auch übertreiben.
Ein sicheres Zeichen, daß man zuviele derartige Bücher
gelesen hat, ist, wenn man zum Beispiel plötzlich anfängt,
Thomas Mann zu kritisieren, weil seine Sätze länger sind
als 14 Worte, was laut Schreibguru XY unbedingt zu
vermeiden sei. Oder anmahnt, daß bei »Alice im Wunderland«
kein klarer dark
moment
auszumachen
sei. Oder daß Patrick Süßkinds »Parfüm« - es mag seit
Jahrzehnten ein Weltbestseller sein, wie es will - trotzdem
der klar gezeichnete personale Antagonist und das Happy End
fehle.
Kurz gesagt: Man ist auf den Holzweg geraten, wenn man
anfängt, Romane nicht mehr danach zu beurteilen, ob
sie gut
sind,
sondern ob
sie die
Regeln
erfüllen.
Denn das heißt nichts anderes, als daß man nicht mehr
imstande ist, den Roman überhaupt noch wahrzunehmen. Man
sieht nur noch die Regeln, oder was man dafür hält.
Diesen Zustand - der zum Glück meistens auch wieder vergeht
und außer einer Art Kater selten Nachwirkungen hat - könnte
man akute
Schreibbuchvergiftung oder
auch Dramaturgitis
nennen.
In der Hoffnung, daß dieser Hinweis vorbeugend wirken möge,
sei es deswegen hier einmal ausdrücklich gesagt:
Ein Buch ist nicht aus
dem Grund gut, weil es »Regeln«
einhält.
Oder, um noch deutlicher zu werden:
Es gibt keine Regeln.
Ja. Der geneigte Leser liest richtig. Das, was man nach der
Lektüre eines Schreiblehrbuchs für eine »Regel« hält, ist
nichts weiter als der Versuch, irgendwie zu begreifen, wie
zum Kuckuck noch mal dieser oder jener Autor ein so
verflixt gutes Buch hingekriegt hat. Es ist der Versuch,
aus einem gelungenen Roman etwas zu destillieren - eine Art
Zaubertrank, Hexenspruch oder magisches Ritual - das einem
helfen soll, selber etwas Vergleichbares hinzukriegen.
Wohlgemerkt: Es gibt ein paar Zusammenhänge, die zu kennen
nützlich ist. Aber man kann es übertreiben, und viele
übertreiben es auch. Die schreiben mir dann gern Emails, in
denen kein Satz grammatikalisch richtig und jedes Wort mit
mehr als fünf Buchstaben falsch geschrieben ist (ich rede
nicht von neuer oder alter Rechtschreibung, ich rede von
Bockmist-Scheißdeutsch), und erklären, sie hätten vor,
demnächst den größten Roman aller Zeiten zu verfassen, ich
solle ihnen nur vorher noch rasch die Beziehung zwischen
der Heldenreise nach Vogler/Campbell und dem Grand Argument
Story Paradigma erläutern. Oder sowas in der Art.
Mit Büchern über das Handwerk des Schreibens ist, kurz
gesagt, wie mit Büchern über Sex: Natürlich kann man etwas
daraus lernen, und wenn man überhaupt niemanden hat, der
einem die Grundlagen erklärt, ist so ein Buch besser als
nichts. Aber - großes ABER - man wird kein um so besserer
Liebhaber, je mehr man davon liest!
Im Gegenteil, irgendwann schlägt es in die falsche Richtung
aus. Man könnte zweifellos eine herrliche Story über einen
Jüngling schreiben, der sich vor seinem ersten Rendezvous
noch rasch ein halbes Dutzend Sexratgeber besorgt, auf
Karteikarten exzerptiert und den Stoff büffelt, wie er es
im Studium gelernt hat - und wie der Abend dann tatsächlich
verläuft... Okay, es würde eine Story voller schrecklicher
Peinlichkeiten. Lassen wir das.
Mit dem Schreiben ist es jedenfalls genauso: Man muß es vor
allem tun.
Und jetzt bitte nichts falsch verstehen: Nachdenken muß man
natürlich irgendwann auch. Man muß das, was man geschrieben
hat, bewerten.
Nicht in dem Sinne, daß man sich Schulnoten erteilt,
sondern in dem Sinn, daß man versucht, sich darüber
Rechenschaft abzulegen, wie gut es geraten ist, ob es zu
verbessern ist und wie man es beim nächsten Mal besser
anpackt. Dabei kann es helfen, mit jemandem zu reden, der
ebenfalls schreibt. Wenn sich aus dem Schreiben Fragen
ergeben, findet man in besagten Schreibbüchern mitunter
Antworten, die einen tatsächlich weiterbringen. Aber vor
allem muß man schreiben.
Was »Regeln« und Methoden so verführerisch macht, ist die
damit verbundene Illusion, die Sache mit dem Schreiben in
den Griff zu kriegen.
Bloß - Schreiben ist nicht so. Wenn man einen Roman
schreibt, kann es einem immer passieren, daß man plötzlich
nicht mehr weiter weiß. Daß man dasitzt, grübelt, schier
verzweifelt. Daß man sich mit Dingen konfrontiert sieht,
die man so genau gar nicht wissen wollte. In so einer
Situation ins nächste Schreibseminar zu rennen oder noch
ein Buch über Plotting zu kaufen kann genau das Falsche
sein. Es gibt Situationen, die man einfach durchstehen muß.
Beim Schreiben begegnen sie einem zuhauf.
Tatsächlich sind alle »Regeln«, Techniken, Methoden und so
weiter nur so etwas Ähnliches wie Stützräder am Fahrrad.
Sie helfen einem am Anfang ein Stück weit, aber irgendwann
muß man sie abschrauben, sonst lernt man das
wirkliche
Radfahren
nie.
Und wenn man erst einmal Radfahren kann - dann braucht man
sie nicht mehr!
Um radfahren zu können, muß man lernen, sich der Physik von
Zentrifugalkraft, Kreiselwirkung und Massenträgheit
anzuvertrauen - was ein ordentlich großer »Sprung« ins
Ungewisse ist, der meistens ja auch erst einmal nicht
gelingt. Doch die Belohnung besteht in einer Fähigkeit, die
gewissermaßen auf einer höheren Ebene liegt - und die man
nie erreicht hätte, hätte man die Stützräder ängstlich
beibehalten!
Und all die Regeln übers Schreiben... Auch sie muß man erst
wieder vergessen haben, ehe man sie beherrschen kann.
© 2006 Andreas Eschbach
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