Wie man als Schriftsteller lesen sollte

Er wolle Schriftsteller werden, erklärte mir neulich jemand per Email und erkundigte sich besorgt: »Muß man da viel lesen?«

Die Antwort darauf ist natürlich: Nein. Man
muß nicht viel lesen - man liest viel. Genau wie jemand, der eine Karriere als Bundesligafußballer anpeilt, sich kein wichtiges Spiel entgehen lassen und sonntags zuverlässig auf dem Sportplatz anzutreffen sein wird.

Wie mag jemand, der keine Bücher liest, überhaupt auf die Idee kommen, sein Leben daran zu verwenden, welche zu schreiben? Ich vermute, der Betreffende hat gerade einen dieser Filme gesehen, in denen reiche, berühmte Schriftsteller an Pools sitzen oder in Bars oder sonstwo, jedenfalls aber nicht am Computer; in dem Fall dürfte diese Anwandlung nach dem nächsten Kinogang verflogen sein.

Also, Klartext: Viel zu lesen ist für einen Schriftsteller wie zu atmen, zu schlafen oder zu essen - bloß wichtiger. Wer nicht liest, lebt nur halb, das gilt für jeden und für Autoren in verschärftem Maße. Abgesehen davon, daß Lesen das Leben bereichert, schärft es das Sprachgefühl; wer viel liest, braucht keine grammatikalischen Regeln.

Für Schriftsteller gilt zudem, daß man nur schreiben kann, was man auch gerne liest. Denn nur von dem, was man gerne liest, liest man auch viel, und viel von einem Genre zu lesen macht einen vertraut mit dessen Konventionen, erzählerischen Mitteln, Grenzen und Klischees. Wer nur empfindsame Liebesgeschichten liest, sollte sich nicht an blutrünstigen Horrorschockern versuchen - und umgekehrt.

Hier gilt es, rückhaltslos ehrlich mit sich zu sein und sich auch nicht davon beeinflussen zu lassen, daß manche literarischen Gebiete weniger angesehen sind als andere - oder gar als anrüchig gelten. Ja, genau die Bücher, die man nur zuhause liest, in einen anderen Umschlag einschlägt, wenn man sie doch einmal mit auf Reisen nimmt und die man anschließend in einem geheimen Regal im Abstellraum aufbewahrt, das kein Gast je zu sehen bekommt - genau das könnte die Art Bücher sein, die man schreiben sollte!

Das Faszinierende an Büchern ist, daß nichts verborgen liegt. Alle Wirkung, die ein Text entfaltet, erzielt er durch Worte, und diese Worte stehen alle da, ausnahmslos. Jedes Buch, das man liest, eignet sich als Studienobjekt. Das erfordert freilich, es ein
zweites Mal zu lesen - und ein drittes, ein viertes... Beim ersten Mal ist man für gewöhnlich zu absorbiert von der Spannung, der Handlung, der Atmosphäre, um auf handwerkliche Dinge achten zu können. Zumindest sollte man es sein, andernfalls wäre es kein gutes Buch. (Wobei es sich auch lohnen kann, ein schlechtes Buch eingehender zu betrachten: Um daraus zu lernen, wie man es nicht machen soll. Und an ausgesprochener Trivialliteratur kann man, so meine Erfahrung, die grundlegenden handwerklichen Aspekte besser lernen, weil sie aus nicht viel anderem bestehen und die Autoren auch weniger geschickt darin sind, die »Scharniere« einer Geschichte zu verbergen.)

Und es reicht nicht, sich einfach ein zweites oder drittes Mal dem Erzählfluß zu ergeben. Man muß irgendwann schon mit einem anderen Auge an die Sache herangehen. Man muß sich fragen, »wie macht er bzw. sie das?« - und dann tun, was man kann, um es herauszufinden. Ich persönlich scheue nicht einmal davor zurück, mit Bleistiften und Farbmarkern auf Bücher loszugehen, auch wenn mir bewußt ist, daß sich Bücherliebhabern bei dieser Vorstellung die Nackenhaare sträuben. Sätze unterstreichen! Randbemerkungen machen! Die Fäden der Handlung verfolgen! Die Dialoge laut lesen! Wendepunkte identifizieren! Nach dem »Bauplan« einer Szene fahnden!

Wohlgemerkt: Sinn der Sache ist nicht, eine Art Rezension des Buches zu erstellen. Sinn der Sache ist, herauszufinden, wie die Geschichte
gemacht ist.

Was ist der Unterschied? Nun, eine Rezension ist so etwas ähnliches wie der Test eines neuen Automodells in einer Fachzeitschrift. Zuerst wird es eingehend beschrieben - wieviel PS, Schadstoffausstoß, Verbrauch usw. -, es folgt ein Erfahrungsbericht, und am Schluß werden Punkte und Noten vergeben. So etwas mag als Kaufempfehlung taugen, aber es lehrt einen nichts darüber, wie man so ein Auto
baut.

Deswegen machen Kraftfahrzeughersteller es auch anders: Sie kaufen jedes neue Modell, das der Mitbewerber auf den Markt bringt, fahren es in ihre Werkstätten und zerlegen es bis auf die letzte Schraube. In einer Art Decompilier-Prozeß werden die Baupläne rekonstruiert, versucht man, die Lösungsansätze der Konkurrenten nachzuvollziehen - alles mit dem Ziel, daraus Einsichten für die eigene Arbeit zu gewinnen.

Und genau das sollte ein Schriftsteller auch tun.

Mir schien dieser Ratschlag immer die natürlichste Sache der Welt zu sein. Aber wie mit anderen natürlichen Sachen kann man, wie ich feststellen mußte, auch hiermit heftig anecken. Ich könnte fordern, ein Autor müsse unbedingt Drogen nehmen, und zwar schon morgens nach dem Aufstehen, und würde weniger Widerspruch ernten als mit dem schlichten Vorschlag, Texte anderer Autoren daraufhin zu untersuchen, wie sie funktionieren.

»Das zerstört den Zauber!« ist der häufigste Aufschrei, getan von Leuten, die das, was ich vorschlage, nie versucht haben. Ich denke, sie fühlen sich an langweilige Schulstunden erinnert, die freilich wohl imstande waren, einem Text jeden Zauber zu nehmen, aber aus anderen Gründen. Diese Furcht entspringt dem Glauben, man könne einen Text »fertig« analysieren: Das kann man nicht; tatsächlich kommt man an kein Ende, und die wirklich guten Texte werden durch diese Art der Auseinandersetzung nur noch ehrfurchtgebietender. (Die Werke Shakespeares analysiert man seit vierhundert Jahren, ohne daß es ihrer Wirkung Abbruch getan hätte.)

Daß man nie »fertig« wird, heißt nicht, daß man nichts lernen kann. Im Gegenteil, es heißt, daß man aus ein und demselben Buch
immer wieder etwas Neues lernen kann!

Aber gut, natürlich darf jeder mit seinen Büchern machen, was er will. Und wer Angst um den »Zauber« hat, möge diese Angst weiter pflegen, sich dann aber bitte nicht beklagen. Hier meine Vorschläge - die meisten davon, wie ich Bücherliebhaber bitte zu bemerken, minimalinvasiv:

1. Man gehe die Kapitel der Reihe nach durch und notiere, was in den Szenen darin geschieht, jeweils in
einem (!) zusammenfassenden Satz. Auf diese Weise destilliert man eine Art Gliederung des Romans, anhand derer man die Entwicklung der Handlung studieren kann.
Man stelle sich Fragen wie:
  • Welches sind die elementaren Szenen? Wo nimmt die Geschichte jeweils eine entscheidende Wendung?
  • Was ist der grundlegende Konflikt? Wo und wie wird er aufgebaut, wie spitzt er sich zu, wie löst er sich?
  • Welche Handlungsfäden gibt es? Wo beginnt und wo endet jeder? Was ist die Haupthandlung? Wie sind die Fäden miteinander verwoben?
  • Wie wird die Spannung aufgebaut? Wo werden Informationen vorenthalten, wo Hinweise auf Dinge versteckt, die in der Auflösung eine Rolle spielen?
2. Man erstelle eine Übersicht der Figuren des Romans und wie sie sich entwickeln. Welche Figuren sind wichtig, welches die Hauptfiguren, welche nur Nebenrollen? Welche sind stark, gelungen, lebendig? Wieso? Und welche sind es nicht? Was ist bei ihnen anders?

3. Man gehe einen Roman durch und achte nur darauf, wie die Welt, in der er spielt, geschildert wird. Wird sie überhaupt sinnlich erfahrbar, oder ist alles, was wir erfahren, daß wir »in New York« sind?

Wenn es eine erfundene Welt ist: Ist sie durchdacht? Ist eine innere Logik spürbar? Werden Bereiche ausgespart, und wenn ja, warum?

4. Man versuche, die Handlung des Romans zusammenzufassen - zuerst auf einer Seite, dann in sechzig Worten. (Auf diese Weise lernt man zu erkennen, was wesentlich ist an einer Handlung und was nicht.)

5. Man betrachte einzelne Szenen. Kernszenen. Szenen, die einen beim Lesen beeindruckt haben. Szenen, die man für schwach hält.
  • Wieso dieser Einstieg? Wäre ein anderer möglich? Besser?
  • Warum das gewählte Ende? Würde die Szene gewinnen, wenn sie noch ein wenig weiterginge?
  • Was ist der Konflikt? Wie entsteht er? Wie steigert er sich? Wie löst er sich?
  • Was steht auf dem Spiel? Und wie wirkt sich das auf die Spannung aus?
  • Was wird neben der eigentlichen Handlung mit der Szene bewirkt? Atmosphäre geschaffen? Eine Figur charakterisiert? Eine Information eingebaut? Etwas angedeutet, das später passieren wird?

5. Man studiere die Erzählweise, die Wortwahl, den Satzbau. Werden Fachausdrücke gebraucht oder vermieden? Warum? Sind die Sätze vorwiegend lang oder vorwiegend kurz? Aus welcher Perspektive wird erzählt, wird sie durchgehalten? Wenn nein, mag es einen Grund dafür geben? Wie dicht sind wir dran am Erleben der Perspektivfigur?

Man schreibe durchaus auch einmal Passagen eines Romantextes ab - langsam, bedächtig und von Hand. Das kann einem tiefere Einsichten in die »Funktionsweise« eines Textes verschaffen, als der simpel anmutende Vorschlag ahnen läßt. (Ich
weiß, daß ihn praktisch niemand befolgen wird.)

Man experimentiere damit, Passagen
umzuschreiben. Sätze anders zu formulieren. Umzudrehen. Einzelne Worte gegen Synonyme auszutauschen.

Und der »Powerbooster« unter den Schreibübungen: Man erstelle zu einer Szene eine stichwortartige Gliederung dessen, was darin geschieht, lege alles für ein paar Tage beiseite, schreibe dann die Szene in eigenen Worten - und vergleiche anschließend die eigene Version mit der Originalfassung. Bringt mehr als jedes Schreibseminar. Wenn man es durchzieht.

Darum geht es allerdings immer beim Schreiben: Daß man es durchzieht.

© 2006 Andreas Eschbach

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